Wir brauchen einen radikalen Wandel, um noch irgendwie die Klimakurve zu kriegen, aus der wir bald mit aller Wucht fliegen könnten. Die Szenarien der Klimaforscher:innen sind, sofern man sie begreift, besorgniserregend, deprimierend und schockierend. Doch an wen richten die Wissenschaftler:innen des IPCC, der Scientists4Future, des CEN, CSS, Marum oder des IUP ihre Appelle? An Politiker:innen. Immer und immer wieder. Seit Jahrzehnten. Und nichts passiert (bis auf Augenwischerei).
Erst Ende Oktober gab es eine Riesenchance für den angemahnten radikalen Wandel: Es ging um die Gemeinsame Agrarpolitik der EU, und trotz breiter Appelle von Wissenschaftler:innen und vollmundiger Ankündigungen von Politiker:innen kam es wie immer: Lobby und Partikularinteressen setzten sich gegenüber der Umwelt und dem Gemeinwohl durch. Am Ende nicht mal ein fauler Kompromiss, stattdessen die Fortsetzung der wissenschafts-, natur- und landwirtschaftsfeindlichen Politik der letzten Jahrzehnte. Das ist tragisch, wenn man bedenkt, dass diese Entscheidung knapp 400 Mrd. Euro betrifft, das ist mehr als ein Drittel des gesamten EU-Haushalts. Und damit wird die Agenda der Europäischen Agrarwirtschaft bis 2027 festlegt.
Viele weitere Beispiele könnte ich anführen, die beweisen, dass wissenschaftliche Appelle an Politiker:innen verlorene Liebesmüh sind. Für uns in Deutschland will ich nur kurz an das so genannte Kohleausstiegsgesetz erinnern, das schon vom Wort her ein Hohn ist, schließlich wurde mit dem Gesetz wider aller Appelle festgeschrieben, dass wir bis ins Jahr 2038 Kohle verbrennen sollen. Letztendlich ein Gesetz, das festschreibt, dass wir mit aller Wucht aus der besagten Klimakurve fliegen sollen.
Der renommierte Klimaforscher Stefan Rahmstorf mahnt immer wieder an, dass auch Jahre nach den Pariser Vereinbarungen die Pläne der Regierungen, insbesondere Deutschlands, zu einer drastischen Überschreitung der Pariser Ziele führen werden. Die notwendige Reduktionsrate ist 5x größer als die bisherige seit 1990.
Stefan Rahmstorf schrieb in seinem Artikel Anfang 2019: Vergleicht man die Taten und Pläne der Bundesregierung mit dem, was zur Umsetzung der Paris-Ziele nötig wäre, fragt man sich: Hat die Politik die grundlegenden Fakten überhaupt verstanden?
Dass “die Politik” verstanden hat, zeigte ein Tweet des BMU:
Rückblickend können wir festhalten: Ja, verstanden hat “die Politik” vielleicht, aber gehandelt hat sie wieder mal wider Verstand. Das ist die Welt, in der wir leben. Und es ist Zeit, dazu zu lernen: Die Politik ist reaktiv statt proaktiv. Der radikale Wandel wird nicht von Brüssel, Bonn oder Berlin ausgehen… oder, Moment, bleiben wir in Berlin:
Disruption heißt, ein System obsolet zu machen, indem etwas gestaltet wird, das mindestens um den Faktor 10 besser ist.
Gäbe es Tesla nicht, würden wir deutlich weniger Elektrofahrzeuge auf den Straßen haben. Noch beeindruckender: Tesla übt trotz des politischen Protektionismus in Deutschland Druck auf die Automobilindustrie aus. Volkswagen, BMW und Daimler drohen den Anschluss zu verlieren (falls nicht schon passiert). Sie sind nun gezwungen, sich um E-Mobilität zu kümmern und damit auch um nachhaltige Arbeitsplätze in Deutschland.
Dieser Druck durch Innovationen findet auch im Energiesektor statt: Unternehmen wie Lanzatech und Northvolt treiben die Einführung erneuerbarer Energien deutlich voran. Sie haben zudem hohe F&E-Ausgaben, wodurch marktnahe Transformationen vorangetrieben wird.
Der Einfluss von Startups darauf, wie wir in Zukunft leben, konsumieren und uns entwickeln, kann gigantisch sein. Ein Blick in die USA zeigt, dass 85% aller F&E-Ausgaben seit 1974 von Unternehmen getätigt wurden, die einst als Startups Investitionen von Venture Capital Firmen erhalten hatten. Ich muss das wiederholen: 85% aller F&E-Ausgaben in den USA werden getätigt von ehemaligen Startups! Hier entstehen die Innovationen, die dann auch Druck auf die Politik ausüben!
Im Gegensatz zu Politiker:innen sind Gründer:innen und Venture Capitalists gewillt, Wissenschaftler:innen zuzuhören, ihrem Rat zu folgen und datenbasiert zu handeln. Dass unser Ökosystem (Startups und VCs) immer grüner wird, zeigt auch eine aktuelle PWC-Studie, derzufolge sich 43% aller Startups zur Green Economy zählen.
Bemerkenswerterweise kennt auch die Politik die Power von Venture Capital und appelliert über einen KfW-Bericht an Investoren, sie sollen doch bitte mehr Geld für Startups und Innovationen ausgeben. Und genau das passiert inzwischen, vor allem wenn wir uns Investitionen in Technologien anschauen, die das Potenzial haben, die Klimaerwärmung abzubremsen: Laut einer PWC-Studie haben sich die Investitionen in Climate Tech Startups von 2013–2019 um 3750% erhöht! Von 418 Mio. USD auf 16,1 Mrd. USD. Okay, Deutschland hinkt im internationalen Vergleich auch hier hinterher, aber come on!
“Es gibt enorme Wissenslücken”, hat mir ein Autor der IPCC-Berichte gestanden, als wir uns darüber unterhielten, wie Wissenschaft und Startups enger zusammenarbeiten könnten. “Wir brauchen weit mehr Kooperation bei Forschung und dabei, vielversprechende Technologien auf den Markt zu bringen. Wissenschaftlern fehlt oft das unternehmerische Verständnis, der Zugang zum Kapital und zu Unternehmen, die ihre Lösungen anwenden.”
Glücklicherweise gibt es erste Versuche, diese Lücken zu schließen. Vorbildlich finde ich die Arbeit der Wissenschaftler von Project Drawdown, die wirkungsvolle Lösungen erarbeitet haben, in die wir investieren müssen, um die Klimaerwärmung zu stoppen.
Wir brauchen aber weit mehr, das kann nur der Anfang sein. Wenn die Politik erst einmal an Bord ist, werden wir viel aufzuholen haben. Ich will nicht, dass wir in eine Situation geraten, in der wir panisch Technologien werden ausprobieren müssen, deren Wirksamkeit und Markttauglichkeit noch nicht erwiesen ist.
Lasst uns nicht noch länger auf “die Politik” warten — lasst uns JETZT damit beginnen, die Technologien zu entwickeln, zu testen und einzusetzen, die wir für eine regenerative Welt brauchen.